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Texts about the work of Tanja Hehmann by Anne Simone Krüger, Helene Roolf, Ludwig Seyfarth und Franziska Storch

Ludwig Seyfarth: Tanja Hehmann – Eine Malerei der Aggregatzustände
with english version, translated by Barbara Lang

Helene Roolf: Passagen und Enklaven

Dr. Franziska Storch im Interview mit Tanja Hehmann über die Werkserie “Transition possible”

Anne Simone Krüger

Die Farbe in Tanja Hehmanns Bildern 
"ist sowohl reine Materie als auch gemalte Philosophie."

Tanja Hehmann – Beendigungsanfänge

In diffuser, immaterieller Gestalt wirbeln strahlendes Zitronengelb, knalliges Pink und ein Hauch Orange über die Leinwand und bilden einen Farbnebel, dessen fast fluoreszenzartiges Leuchten an eine interstellare Wolke, an einen Gasnebel erinnert. Dunkel an den Bildrändern hellen die flüchtigen, staubartigen Gebilde zur Bildmitte hin zunehmend auf, bis sie sich in Weiß auflösen. Alles Licht scheint hier gebündelt und verschlungen zu werden, der Wirbel verliert sich ins Nichts. Oder gibt er den Blick frei auf etwas, das sich hinter dem Sichtbaren befindet?
Fast mag die Darstellung transzendental erscheinen, erinnert sie doch stark an barocke Deckengemälde, die sich ebenso fließenden Formen, der Betonung von Licht und Schatten sowie beeindruckender Perspektiven bedienen. Immer öffnet sich auch dort der Himmel zu jenem, was wir noch nicht oder nicht ergründen können – womit im 17. Jahrhundert ausnahmslos das Göttliche gemeint war. Hier jedoch bricht der zweite Teil des Bildes mit derartigen Spekulationen. Denn das 150 x 110 cm messende Hochformat mit dem Titel Interfluerence I aus dem Jahr 2021 wird in den unteren zwei Dritteln von einer dunklen Fläche eingenommen, deren geradlinige Konturen die Betrachtenden zurück ins Hier und Jetzt befördern. Zwar drückt sich der Nebel je nach Lichteinfall aschgrau durch die dunkle Übermalung hindurch, doch verhindern weitere Störelemente in Form von zwei horizontal verlaufenden Balken, dass wir uns in den amorph wabernden Schwaden verlieren. Wissenschaftlich sachlich holen sie uns zurück auf den Boden, möglicherweise den der Tatsachen.

Blicken wir von dort aus mit der Künstlerin in die unendlichen Weiten des Alls? Was erwartet uns wenn wir den Aspekt der Unergründlichkeit der Welt jenseits des für uns Sichtbaren weiterdenken? Oder folgen wir Tanja Hehmann vielmehr auf einer ganz anderen Route und begleiten sie auf einer Reise in Sachen Farbforschung?

Tanja Hehmann: Interfluerence I, 2021, Tempera on canvas, 150 x 110 cm

Mikrokosmos und Makrokosmos

Glücklicherweise gibt es im Schaffen von Tanja Hehmann kein ‚Entweder-Oder‘. Stattdessen greifen Mikrokosmos und Makrokosmos derartig ineinander, dass die Bilder im Kleinen das Große thematisieren. Ersichtlich wird dieses Oszillieren zwischen dem großen Ganzen und seiner Spiegelung in kleinsten Strukturen, je näher wir an das Bild herantreten. Denn dann erst werden die feinen Strukturen ersichtlich, die Dichte der Pigmente, die unzähligen Schichten der Farbe, die haptische Oberfläche. In der Nahsicht zerfällt der himmlische Kosmos in unzählige kleine Galaxien, aufgebaut aus Pigmenten, die letztlich weniger himmlisch, als vielmehr sehr irden erscheinen. Handelt es sich nicht dort um ein Flussdelta aus Vogelperspektive, in welchem der helle Strom dunkle Erde fortgespült hat? An anderer Stelle dagegen erinnert das sanft auslaufende Magenta an eine Bakterienkolonie unter dem Mikroskop. Wie ist die Welt entstanden? Wie können wir sie verstehen? Und wie das Verstandene visualisieren?
Eine mögliche Antwort scheint hier gegeben, eine mögliche Lösung ist im Moment des Denkens bildlich festgehalten. Das Festhalten des flüchtigen Gedankens findet seine Entsprechung darin, dass die bildimmanenten Strukturen wie eingefroren erscheinen. So ist die teils glasige, halbtransparente Textur der Farbe stellenweise aufgebrochen und bildet kristalline Strukturen, in welchen sich die einzelnen Pigmente mal mehr, mal weniger sammeln. Darüber und darunter sind weitere Farbschichten im Moment des Fließens gestockt, gefangen für immer.
Interfluerence – der Titel des Bildes ist Programm. Der von der Künstlerin neu geschöpfte Begriff beschreibt zum einen das Fließende des Farbauftrags, das Fluide, und zum anderen die Interferenz, die Überlagerung der verschiedenen Ebenen. In dem Zusammenspiel von Bild und Titel, das sich in allen ihren Arbeiten findet, wird die Faszination von Tanja Hehmann für die Materialität der Farbe überdeutlich. Dass sie dieser auf so eindrückliche Weise Ausdruck zu verleihen mag, fußt auf der Verwendung einer Maltechnik, welche bereits in der früheuropäischen Tafelmalerei zum Einsatz kam und die später durch die Erfindung der Ölfarbe immer mehr zur Randerscheinung wurde.

Die Rede ist von Eitempera, welche, ihrem Namen entsprechend, das ganze Ei als Bindemittel des Pigments verwendet. Diese Farbe stellt die Künstlerin in einem aufwendigen Verfahren selbst her. Wie ein alchemistisches Labor muten die alte Waage mit Messinggewichten, die zahlreichen Gefäße, Harze, Pigmente, Eier und Öle an, die für die Herstellung gebraucht werden. Das Harz, vorzugsweise Dammarharz, welches von Laubbäumen stammt, die in Indien, Indonesien, Papua-Neuguinea und den Philippinen wachsen,1 wird zunächst in Balsamterpentinöl gelöst. Zur genauen Berechnung der Mengenverhältnisse dient dabei eine alte Apothekerwaage. Anschließend werden die Eier mit dem gelösten Harz und reinem Pigment und Wasser zu einer Emulsion verarbeitet und mit Alkohol langlebig gemacht. Das Ergebnis ist eine besonders intensive und leuchtstarke Farbe, die explizit auf die Anforderungen der Künstlerin abgestimmt ist. Und diese sind nicht gerade gering, schließlich hat Tanja Hehmann den klassischen Farbauftrag schon lange hinter sich gelassen.

Farbschüttungen

So entstehen die faszinierenden Farbgebilde in einem ersten Schritt vielfach durch Farbschüttungen. Die auf dem Boden liegende Leinwand wird mit Farbe begossen, dann gedreht und gewendet, dem zufälligen Prozess wird sukzessive, soweit nötig und möglich, auf die Sprünge geholfen, er wird durch das Anheben der Leinwand gelenkt und geleitet. Jackson Pollock, einer der bekanntesten Vertreter des abstrakten Expressionismus, machte diese Arbeitsweise als erster salonfähig. Ikonenhafte Fotografien zeigen ihn sich mit einem durchlöcherten Eimer, einem Tänzer gleich, über seine Leinwände bewegen. Die so entstandenen ‚Drippings‘ haben Kunstgeschichte geschrieben. Obwohl sowohl die Arbeitsweise als auch die expressive Geste des Farbauftrags sich ähneln, führen sie bei Tanja Hehmann zu einem grundverschiedenen Ergebnis. Denn die bei ihr entstehenden Strukturen werden nicht ‚gedrippt‘, nicht getröpfelt, sondern mehr im Sinne des Wortes auf die liegende Leinwand gegossen. Auch ist der Prozess weniger steuerbar als bei Pollock.
Insofern sind ihre Bilder in eine andere Traditionslinie einzuordnen, welche in der Renaissance bei Botticelli beginnt. Über seine Methode sich für Landschaftskompositionen Inspiration zu verschaffen, berichtet Leonardo da Vinci, dass dieser einen mit Farbe getränkten Schwamm gegen die Wand geworfen habe. Die so entstandenen Flecken lieferten ihm Ideen, er habe in „derartigen Gebilden ganze Kosmen von menschlichen Köpfen, Tieren, Schlachten, Klippen, Meeren, Wolken und Wäldern erkannt“.2 In den 1920er Jahren wiederum machen sich die Surrealisten das Potential des kontrollierten Zufalls zunutze. Wie auch Tanja Hehmann machen sie sich alternative Methoden des Farbauftrags zu eigen: Max Ernst verhilft der Grattage zu Ruhm, bei welcher unter eine mit mehreren Farbschichten präparierte Leinwand ein Gegenstand gelegt und die Farbe darüber abgeschabt wird, andere Kollegen arbeiten mit der Frottage, bei welcher das Prinzip umgekehrt wird und ein Gegenstand durchgerieben wird, oder der Décalcomanie, einem Farbaklatschverfahren. Viele von ihnen bearbeiten dabei die so entstehenden Strukturen weiter – das gleiche Vorgehen findet sich auch in Tanja Hehmanns Bildern. In Interfluerence I handelt es sich dabeium partielle Übermalungen mit Ölfarbe, in anderen Bildern dagegen werden die Strukturen mit oftmals alltäglichen Gegenständen erzeugt. Ein Fensterabzieher zum Beispiel hat seine Spuren in dem Bildtrio mit den Titeln Syn I-III hinterlassen, in anderen Bildern kommen Eiskratzer, Schrubber, Bürsten, Holzleisten oder Besen zum Einsatz.

Hypothesen und was wir nicht ergründen können

Der kontrollierte Zufall wird damit bei Tanja Hehmann zu einer grundlegenden Werkkomponente. Unter seiner Zuhilfenahme entstehen Arbeiten, denen sich ein interessantes Eigenleben einschreibt, ist ihr Entstehungsprozess doch nur bedingt steuerbar und der Farbe damit fast schon eine autoaktive, sprich selbsttätige, Agilität zuzuschreiben.3 Sie wird zur bildgestaltenden Materie in einer Weise, welche dem natürlichen Entstehungsprozess von Makrostrukturen wie Galaxien und Mikrostrukturen auf zellulärer Ebene am nächsten kommt. Gleichzeitig erhalten die Bilder von Tanja Hehmann durch diese Analogie nahezu modellhaften Charakter. Sie führen in visuell-ästhetischer Form und einem für uns fassbaren Maßstab vor, was sonst in abstrakten Größen und mathematischen Formeln vermittelt wird.
Die gestisch-freie Ausdrucksweise, die diesem in Farbe kristallisiertem Nachdenken dabei innewohnt, ist eine neue Entwicklung im Schaffen der Künstlerin. Das Reflektieren über die Entstehung des Kosmos, über Dunkle Materie, Multiversen oder die Stringtheorie findet sich bereits seit einigen Jahren in ihrem Werk wieder. Arbeiten wie die der Serie Finiens rerum von 2019 oder Schmelz der Zufalls von 2015 präsentieren grafische Varianten dieser Themen. In letztgenanntem, 80 x 120 cm großen Werk mäandert eine Verschachtelung verschiedener blau-türkis-gelbtoniger, ineinandergreifender räumlicher Ebenen vor einem undefinierten grau-weißen Hintergrund. Auch hier bietet Tanja Hehmann eine mögliche Lösung, wie sich wissenschaftlich-theoretische Ideen visuell umsetzen lassen. Mit diesen Bildern liefert sie dabei keinesfalls Illustrationen, sondern macht vielmehr das Hypothetische erfahr- und erlebbar.
Denn Kunst bietet nicht zuletzt die Möglichkeit über die Rezeption sinnliche Erkenntnisse zu erlangen, den eigenen Horizont zu erweitern und bislang ungedachte Perspektiven einzunehmen – ungedacht insofern, als bei Tanja Hehmann wissenschaftlich Fundiertes und darüber Hinausgedachtes spannende Fusionen eingehen. In ihren Bildern wird der Erwartungshorizont über- bzw. hinterschritten, es werden weitere potentielle Möglichkeiten gedacht und auf der Leinwand kreiert. Denn dass die Welt so ist, wie sie ist, heißt nicht, dass sie nicht auch ganz anders hätte sein können.
So lässt sich vielleicht von Bestimmung sprechen, wenn wir darüber nachdenken, warum der Kosmos sich so entwickelt hat, wie er sich entwickelt hat. Damit schließt sich der Kreis und wir sind wieder dort, wo wir begonnen haben: In Tanja Hehmanns Bildern öffnen sich Blicke auf das, was wir nicht ergründen können. Und das Nachdenken darüber wirft uns letztlich auf unser eigenes Schicksal und damit auch auf unsere Vergänglichkeit zurück. So finden sich wiederum Anklänge an die Malerei des Barock, welche sich intensiv mit dem Sujet des Memento Mori, des Mahnspruchs der eigenen Vergänglichkeit zu gedenken, auseinandersetzte. Das Thema selbst jedoch ist so alt wie die Menschheit selbst und hat im Laufe der Zeit viele Gesichter erhalten. Eines davon findet sich im Titel des Kataloges wieder: ATROPOS – SOPORTA. Denn ‚Atropos‘ entspringt der griechischen Mythologie, sie ist eine der drei Moiren, der Schicksalsgöttinnen. Ihr obliegt es, den von ihren Schwestern hergestellten Lebensfaden eines jeden Menschen zu zerschneiden.4 Der Begriff ‚soporta‘ spiegelt ihren Namen in Form eines Anagramms und bedeutet im Spanischen gleichzeitig ‚unterstützen‘, aber auch ‚ertragen‘. Beides scheint treffend, wenn es um das eigene Schicksal geht.

Potential des Anfangs

Dem Ende stellt Tanja Hehmann jedoch immer den Anfang gegenüber, Beendigungsanfänge könnte man ihrem Vorgehen attestieren. Der Anfang liegt dabei allein schon in der Technik begründet: Denn das Material Ei, welches sie für die Herstellung der Farbe verwendet, ist ebenfalls metaphorisch aufgeladen. Nicht von ungefähr sind Eier Teil des Osterbrauchs und stehen in diesem Kontext für das neu sprießende Leben. Aber auch der Vorgang der Bildherstellung, die dabei entstehenden Strukturen, welche an organische Wachstumsprozesse genauso wie an kosmische Gebilde denken lassen, verweist immer wieder auf Neuschöpfung und das Potential des Anfangs. Indem sie eine alte Maltechnik neu befragt, erschafft Tanja Hehmann so Bilder, in welchen die Farbe einerseits für sich selbst steht und andererseits ganze Universen eröffnet. Sie ist sowohl reine Materie als auch gemalte Philosophie.

1 Vgl. Max Doerner: Malmaterial und seine Verwendung im Bilde. 16. Aufl., Stuttgart 1989.

2 Horst Bredekamp: Der Bildakt, Berlin 2015, S.312. Bredekamp bezieht sich an dieser Stelle auf: Leonardo da Vinci: Trattato della pittura, hrsg. von Ettore Camesasca, Mailand 1995, § 57, S.54.

3 Ausführlich über autoaktive Prozesse und das Eigenleben der Farbe schreibt Horst Bredekamp in „Der Bildakt“ (Anm.2).

4 Vgl. Apollodor: Bibliotheke. Götter- und Heldensagen. Griechisch und Deutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Paul Dräger. Reihe Tusculum. Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 2005.

Der Text ist abgedruckt im Werkkatalog “ATROPOS SOPORTA”, erschienen bei GUDBERG NERGER, 2022, und erhältlich im Buchhandel.